Die kleine Alice hat einen merkwürdigen Traum: Sie folgt einem sprechenden weißen Kaninchen in eine von lauter skurrilen Gestalten bevölkerte unterirdische Welt, in der einige seltsame Naturgesetze gelten. Auf ihrer Suche nach einem Weg zurück in die reale Welt erlebt Alice viele Abenteuer. Unter anderem schrumpft sie zum Zwerg, wächst zur Riesin, macht die Bekanntschaft einer Wasserpfeife rauchenden Raupe, erlebt eine sehr eigenartige Teeparty und trifft auf ein ganzes Volk lebender Spielkarten, das von der grausamen Herz-Königin regiert wird.
Meinung:
"Die kleine Alice" erschien erstmals im Jahr 1890 und somit 25 Jahre nach Lewis Carrolls Originalwerk "Alice im Wunderland". Aufgrund der Begeisterung, mit der die Abenteuer von Alice in Großbritannien von Jung und Alt aufgenommen wurden, enschloss sich Carroll zu einer Adaption seiner Geschichte für ein ganz besonders junges Publikum, nämlich Kinder zwischen 0 und 5 Jahren. Auch wenn diese das Buch noch nicht selbst lesen könnten, sollten sie darin blättern, es zerfleddern, Eselsohren hineinmachen, es mit sich herumtragen und einfach lieben. Zu diesem Zweck wurden die Episoden der ursprünglichen Geschichte überarbeitet und stark gekürzt, was teilweise sehr auf Kosten des roten Fadens durch die Geschichte geht.
Der von Carroll verwendete Erzählstil ist gewöhnungsbedürftig. Aufgrund der Ausrichtung auf ganz kleine Kinder schrieb er die Geschichte in eine Form um, die dem freien Erzählen eines Erwachsenen gegenüber einem Kind gleichen soll. So ist der Text gespickt mit rhetorischen Fragen und Anreden an das Kind. Ständig wird die Handlung durch Einschübe, wie z.B. "Was erlebte Alice wohl als Nächstes? Du kommst sicher nicht darauf, also muss ich es dir wohl wieder erzählen." unterbrochen. Bereits die erste dieser Fragen, ob es nicht eigenartig sei, dass da ein sprechendes Kaninchen mit einer Uhr in der Hand durch die Gegend laufe, fällt beim Lesen unangenehm auf. Spätestens nach der fünften Buchseite werden diese "Was dann passierte, kannst du dir sicher nicht vorstellen"-Einschübe geradezu lästig. Abgesehen davon, dass sich diese Fragen einem Kind beim Zuhören gar nicht wirklich stellen, wird ihm damit fortwährend eingeredet, es könne sich ja ohnehin nicht vorstellen, wie es weitergehe. Auch wird dem Vorleser ein Pseudo-Dialog aufgezwungen, den er in dieser Form normalerweise gar nicht führen würde und möchte.
An einigen Stellen wird das Kind durch den Erzähler aufgefordert, eine für den weiteren Verlauf wichtige Figur oder einen Gegenstand auf den enthaltenen Illustrationen zu suchen, und damit folgt die Überleitung zu einem weiteren heiklen Thema:
Die aus dem Originalwerk übernommenen Illustrationen von John Tenniel wirken in der heutigen Zeit etwas antiquiert und befremdlich. Sie stammen nun mal aus dem vorletzten Jahrhundert, als kleine Kinder zum Ausgehen noch in schicke Matrosenanzüge gesteckt wurden und sich über viele Jahre hinweg an einem Schaukelpferd erfreuen konnten, welches im Vergleich mit den heute erhältlichen wohlgenährten, niedlichen und flauschigen Ponys aussah wie ein ausgemergelter alter Gaul. Wer die Alice-Geschichte bisher nur aus der Walt-Disney-Verfilmung kennt und ähnlich skurrile, jedoch durchwegs niedlich und sympathisch angelegte Cartoon-Figuren erwartet, wird mit Sicherheit bitter enttäuscht werden. Tenniels Bilder bestechen dagegen durch ihren Detailreichtum und, soweit es die Darstellung von Tieren betrifft, eine große Realitätsnähe. Die Figuren mit menschlichem Aussehen erinnern dagegen an Karikaturen, mit kleinen Körpern, großen Köpfen und fiesen, teilweise sogar abstoßenden Gesichtern. Verglichen mit den heute in Kinderbüchern üblicherweise anzutreffenden netten Figuren in fröhlichen Farben, wirken diese Bilder durchwegs finster und für kleine Leser möglicherweise sogar bedrohlich.
Insofern ist "Die kleine Alice" vermutlich ein Buch, das heute hauptsächlich von Großeltern mit besten Absichten an ihre kleinen Enkel verschenkt wird und ab dann - trotz der hochwertigen Aufmachung als Halbleinen-Hardcover - ein tristes und staubiges Dasein in einem elterlichen Bücherregal fristet - gleich neben dem "Struwwelpeter" und dem Sammelband mit den weniger bekannten Geschichten von Wilhelm Busch.
Fazit:
"Die kleine Alice" ist Lewis Carrolls vor etwa 120 Jahren unternommener Versuch, sein erfolgreiches Kinder- und Erwachsenenbuch "Alice im Wunderland" für Kinder von 0 bis 5 Jahren zu adaptieren. Die einzelnen Episoden wurden extrem gekürzt und in Form einer Art schriftlicher Live-Erzählung verfasst. Durch die ständige Einstreuung rhetorischer Fragen soll das zuhörende Kind vermutlich bei Laune gehalten werden. Dazu wird ihm immer wieder klar gemacht, dass es sich ja nicht mal im Entferntesten vorstellen könne, wie interessant die Geschichte gleich weitergehen werde. Die eigentliche Handlung tritt dabei leider so weit in den Hintergrund, dass es sich tatsächlich nicht lohnt, im Voraus einen Gedanken an die möglicherweise folgende Szene zu verschwenden.
Die zahlreichen Illustrationen stammen aus einer Zeit, in der es noch üblich war, Figuren sehr detailliert, aber auch mit übertrieben deutlicher Herausstellung ihrer Charaktereigenschaften zu zeichnen. Auf die Zielgruppe der ganz kleinen Kinder bezogen, wirken diese Bilder in heutiger Zeit leider überhaupt nicht mehr ansprechend und erfreulich, sondern vielmehr düster und unter Umständen sogar bedrohlich. Somit handelt es sich bei "Die kleine Alice" letztlich um ein einstmals erfolgreiches Kinderbuch, das aufgrund seiner viel zu kurz kommenden Handlung und der durch die alten Bilder erzeugten ungemütlichen Atmosphäre wohl kaum noch seinen Weg in die Herzen allzu vieler Kinder finden dürfte.
Die kleine Alice hat einen merkwürdigen Traum: Sie folgt einem sprechenden weißen Kaninchen in eine von lauter skurrilen Gestalten bevölkerte unterirdische Welt, in der einige seltsame Naturgesetze gelten. Auf ihrer Suche nach einem Weg zurück in die reale Welt erlebt Alice viele Abenteuer. Unter anderem schrumpft sie zum Zwerg, wächst zur Riesin, macht die Bekanntschaft einer Wasserpfeife rauchenden Raupe, erlebt eine sehr eigenartige Teeparty und trifft auf ein ganzes Volk lebender Spielkarten, das von der grausamen Herz-Königin regiert wird.
"Die kleine Alice" erschien erstmals im Jahr 1890 und somit 25 Jahre nach Lewis Carrolls Originalwerk "Alice im Wunderland". Aufgrund der Begeisterung, mit der die Abenteuer von Alice in Großbritannien von Jung und Alt aufgenommen wurden, enschloss sich Carroll zu einer Adaption seiner Geschichte für ein ganz besonders junges Publikum, nämlich Kinder zwischen 0 und 5 Jahren. Auch wenn diese das Buch noch nicht selbst lesen könnten, sollten sie darin blättern, es zerfleddern, Eselsohren hineinmachen, es mit sich herumtragen und einfach lieben. Zu diesem Zweck wurden die Episoden der ursprünglichen Geschichte überarbeitet und stark gekürzt, was teilweise sehr auf Kosten des roten Fadens durch die Geschichte geht.
Der von Carroll verwendete Erzählstil ist gewöhnungsbedürftig. Aufgrund der Ausrichtung auf ganz kleine Kinder schrieb er die Geschichte in eine Form um, die dem freien Erzählen eines Erwachsenen gegenüber einem Kind gleichen soll. So ist der Text gespickt mit rhetorischen Fragen und Anreden an das Kind. Ständig wird die Handlung durch Einschübe, wie z.B. "Was erlebte Alice wohl als Nächstes? Du kommst sicher nicht darauf, also muss ich es dir wohl wieder erzählen." unterbrochen. Bereits die erste dieser Fragen, ob es nicht eigenartig sei, dass da ein sprechendes Kaninchen mit einer Uhr in der Hand durch die Gegend laufe, fällt beim Lesen unangenehm auf. Spätestens nach der fünften Buchseite werden diese "Was dann passierte, kannst du dir sicher nicht vorstellen"-Einschübe geradezu lästig. Abgesehen davon, dass sich diese Fragen einem Kind beim Zuhören gar nicht wirklich stellen, wird ihm damit fortwährend eingeredet, es könne sich ja ohnehin nicht vorstellen, wie es weitergehe. Auch wird dem Vorleser ein Pseudo-Dialog aufgezwungen, den er in dieser Form normalerweise gar nicht führen würde und möchte.
An einigen Stellen wird das Kind durch den Erzähler aufgefordert, eine für den weiteren Verlauf wichtige Figur oder einen Gegenstand auf den enthaltenen Illustrationen zu suchen, und damit folgt die Überleitung zu einem weiteren heiklen Thema:
Die aus dem Originalwerk übernommenen Illustrationen von John Tenniel wirken in der heutigen Zeit etwas antiquiert und befremdlich. Sie stammen nun mal aus dem vorletzten Jahrhundert, als kleine Kinder zum Ausgehen noch in schicke Matrosenanzüge gesteckt wurden und sich über viele Jahre hinweg an einem Schaukelpferd erfreuen konnten, welches im Vergleich mit den heute erhältlichen wohlgenährten, niedlichen und flauschigen Ponys aussah wie ein ausgemergelter alter Gaul. Wer die Alice-Geschichte bisher nur aus der Walt-Disney-Verfilmung kennt und ähnlich skurrile, jedoch durchwegs niedlich und sympathisch angelegte Cartoon-Figuren erwartet, wird mit Sicherheit bitter enttäuscht werden. Tenniels Bilder bestechen dagegen durch ihren Detailreichtum und, soweit es die Darstellung von Tieren betrifft, eine große Realitätsnähe. Die Figuren mit menschlichem Aussehen erinnern dagegen an Karikaturen, mit kleinen Körpern, großen Köpfen und fiesen, teilweise sogar abstoßenden Gesichtern. Verglichen mit den heute in Kinderbüchern üblicherweise anzutreffenden netten Figuren in fröhlichen Farben, wirken diese Bilder durchwegs finster und für kleine Leser möglicherweise sogar bedrohlich.
Insofern ist "Die kleine Alice" vermutlich ein Buch, das heute hauptsächlich von Großeltern mit besten Absichten an ihre kleinen Enkel verschenkt wird und ab dann - trotz der hochwertigen Aufmachung als Halbleinen-Hardcover - ein tristes und staubiges Dasein in einem elterlichen Bücherregal fristet - gleich neben dem "Struwwelpeter" und dem Sammelband mit den weniger bekannten Geschichten von Wilhelm Busch.
"Die kleine Alice" ist Lewis Carrolls vor etwa 120 Jahren unternommener Versuch, sein erfolgreiches Kinder- und Erwachsenenbuch "Alice im Wunderland" für Kinder von 0 bis 5 Jahren zu adaptieren. Die einzelnen Episoden wurden extrem gekürzt und in Form einer Art schriftlicher Live-Erzählung verfasst. Durch die ständige Einstreuung rhetorischer Fragen soll das zuhörende Kind vermutlich bei Laune gehalten werden. Dazu wird ihm immer wieder klar gemacht, dass es sich ja nicht mal im Entferntesten vorstellen könne, wie interessant die Geschichte gleich weitergehen werde. Die eigentliche Handlung tritt dabei leider so weit in den Hintergrund, dass es sich tatsächlich nicht lohnt, im Voraus einen Gedanken an die möglicherweise folgende Szene zu verschwenden.
Die zahlreichen Illustrationen stammen aus einer Zeit, in der es noch üblich war, Figuren sehr detailliert, aber auch mit übertrieben deutlicher Herausstellung ihrer Charaktereigenschaften zu zeichnen. Auf die Zielgruppe der ganz kleinen Kinder bezogen, wirken diese Bilder in heutiger Zeit leider überhaupt nicht mehr ansprechend und erfreulich, sondern vielmehr düster und unter Umständen sogar bedrohlich. Somit handelt es sich bei "Die kleine Alice" letztlich um ein einstmals erfolgreiches Kinderbuch, das aufgrund seiner viel zu kurz kommenden Handlung und der durch die alten Bilder erzeugten ungemütlichen Atmosphäre wohl kaum noch seinen Weg in die Herzen allzu vieler Kinder finden dürfte.